Überfordert durch Über-Förderung

Entwicklung und Erziehung
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von Christine Kammerer
Selbst die Allerkleinsten werden heute intensiv gefördert – die Förderung beginnt häufig bereits im Alter von zwei bis drei Monaten. Wie selbstverständlich werden Babys und Kleinkinder von einem Kurs zum nächsten chauffiert: Babyschwimmen, motorische Förderung, Kinder-Yoga zur Entspannung und kaum können die Kleinen ein paar Worte sprechen, sind auch schon erste Fremdsprachen-Angebote gefragt. Die Leiter dieser Kurse sind meist pädagogische Laien und falls überhaupt, dann bestenfalls in der angebotenen Disziplin ausgebildet. Das Motto lautet dabei offenbar schlicht „je früher, desto besser“, denn die Angebote entsprechen in aller Regel nicht dem Entwicklungsstand von Kindern oder gar Kleinkindern.
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Selbst die Allerkleinsten werden heute intensiv gefördert – die Förderung beginnt häufig bereits im Alter von zwei bis drei Monaten. Wie selbstverständlich werden Babys und Kleinkinder von einem Kurs zum nächsten chauffiert: Babyschwimmen, motorische Förderung, Kinder-Yoga zur Entspannung und kaum können die Kleinen ein paar Worte sprechen, sind auch schon erste Fremdsprachen-Angebote gefragt. Die Leiter dieser Kurse sind meist pädagogische Laien und falls überhaupt, dann bestenfalls in der angebotenen Disziplin ausgebildet. Das Motto lautet dabei offenbar schlicht „je früher, desto besser“, denn die Angebote entsprechen in aller Regel nicht dem Entwicklungsstand von Kindern oder gar Kleinkindern.

Spätestens im Kindergartenalter stehen dann Ballett, Cello und Mathematik auf dem Programm. Bei diesem Pensum ist es gar nicht so selten, dass die Woche eines 10jährigen verplant ist wie der Arbeitsalltag eines Erwachsenen. Das hat mit Förderung meist weniger zu tun, als mit Drill und Dressur. Ist das noch altersgerecht und angemessen? Sind diese Kinder nicht schon vollkommen überfordert? Haben sie denn überhaupt noch Zeit, um frei und ohne Zwang zu spielen? Und wann können sie mit ihren Freunden oder mit ihrer Familie einfach nur eine gute Zeit verbringen? Diese Fragen, so scheint es, stellen sich viele Eltern gar nicht mehr. Die Angebote werden immer zahlreicher, sie beginnen immer früher und ihre Inhalte sind zunehmend fragwürdig und kurios.

Die Krux mit den sensiblen Phasen

Viele Kursanbieter dreschen pseudowissenschaftliche Phrasen, deren Inhalte sie jedoch teilweise recht willkürlich interpretieren - in ihrem eigenen Interesse. So ist es zum Beispiel auch mit dem Begriff der „sensiblen Phasen“. Richtig ist, dass Kinder in bestimmten Zeitfenstern ihrer Entwicklung besser lernen. Sie sind dann besonders empfänglich für den Erwerb von Wissen. Das bedeutet aber nicht, dass sie die zu diesem Zeitpunkt erworbenen Inhalte oder Fähigkeiten wie zum Beispiel Fremdsprachenkenntnisse lebenslänglich abspeichern. Das liegt daran, dass das Gehirn in dieser Entwicklungsphase noch nicht seine endgültige Form angenommen hat. Die bis dahin entstandenen Verknüpfungen lösen sich wieder. An ihre Stelle treten im weiteren Entwicklungsprozess immer wieder andere Verknüpfungen. Das Gehirn wird nach und nach umgebaut und organisiert sich dann wieder neu. Konkret bedeutet dies, dass in den ersten Lebensjahren nur Grundlagen gelegt werden können, zum Beispiel das Sozialverhalten. Die Inhalte selbst, also die erlernten Fakten, bleiben nicht erhalten. Sie werden spätestens in der Pubertät weitgehend von neu erworbenen Informationen „überschrieben“.

Spielend fördern - Zeitfenster sinnvoll nutzen!

Das freie Spiel ist für Kinder die beste Möglichkeit Neues zu erlernen und Erfahrungen zu sammeln. Kinder wissen meist selbst am allerbesten, was sie brauchen. Und das sind vor allem gute Beziehungen zu Gleichaltrigen. Wenn sie unbeobachtet mit anderen Kindern zusammen sind, spielen sie gerne Situationen aus dem Alltag in ihrem unmittelbaren Umfeld nach. Sie nehmen dabei verschiedene Rollen ein wie Mama, Papa, Verkäufer oder Friseur. Wenn sie diese Personen imitieren müssen sie untereinander Regeln aushandeln. Diese Regeln verändern sich mit den dargestellten Inhalten und müssen immer wieder neu festgelegt werden. Die Kinder organisieren sich selbstbestimmt, begreifen und gestalten ihre kleine Welt. Sie erwerben dabei spielerisch Fähigkeiten, die sie später in der großen Welt, im Alltag benötigen. Sie lernen auf diese Weise zum Beispiel, Probleme zu lösen und Konflikte aus dem Weg zu räumen. Sie erwerben Einfühlungsvermögen, Frustrationstoleranz und andere soziale Fähigkeiten.

In Kursen sind es immer nur die Erwachsenen, die organisieren, bestimmen und die Regeln vorgeben. Es sind die Erwachsenen, die eingreifen, wenn Kinder „falsch“ interagieren. Sie sind sich dabei meist nicht darüber bewusst, dass sie damit wesentliche Lernprozesse unterbinden. Denn gerade die unbeaufsichtigten, ungesteuerten und spontanen Begegnungen und Interaktionen mit Gleichaltrigen sind für Kinder so außerordentlich wichtig. Sie sammeln dabei authentische Erfahrungen und lernen dadurch, echte Beziehungen zu anderen Kindern aufzubauen und Bindungen einzugehen. Nur diese Fähigkeiten geben Kindern wirklich Schutz und echte Stärke. Wird sie nicht oder nur unzureichend erworben, leidet die Entwicklung insgesamt.

Fazit: Die beste Förderung ist das freie Spiel

Dabei werden die Möglichkeiten der Frühförderung meist maßlos überbewertet, ihre Risiken dagegen komplett ausgeblendet. Mit gravierenden Folgen: Jedes dritte Schulkind leidet unter Stress, etwa drei bis zehn Prozent weisen depressive Symptome auf. Aber auch dafür gibt es wiederum jede Menge Lösungen in Form von Therapien und zusätzlichen Kurs-Angeboten. Kurzum: Anstatt den Stress zu reduzieren, werden Kinder heute regelrecht zwischen den Rädern einer Über-Förderungs-Industrie aufgerieben. Und es werden durch solch exzessive Frühförderung tatsächlich auch Grundlagen angelegt, die im späteren Leben erhalten bleiben, nämlich die Dressur zu ehrgeizigen und rücksichtslos durchsetzungsfähigen Egomanen. Sie werden auf diese Weise zu Menschen herangezüchtet, die nicht gelernt haben, mit anderen stabile und belastbare Beziehungen aufzubauen. Für eine intakte Gesellschaft sind aber Fähigkeiten wie das Anderssein zu tolerieren, Frustrationen auszuhalten, Konflikte und Probleme anzugehen und zu lösen existenziell. Doch diese können so nicht erworben werden. Auf diese Weise kommen Einfühlungsvermögen und ein Gefühl des Miteinanders und der Solidarität zunehmend abhanden. Kinder brauchen das freie Spiel mit anderen Kindern. Wer ihnen das nicht gestattet, sondern sie mit Kursen, Events und Medien abspeist, beraubt sie der Kindheit und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten. Daher muss die Forderung an die Zukunft lauten: Gebt den Kindern wieder mehr freien Spielraum!

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Über den Autor/die Autorin
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Christine Kammerer, Politologin M. A., Heilpraktikerin (Psychotherapie), freie Journalistin und Trainerin. Berufliche Stationen: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bundeszentrale für politische Bildung, Deutscher Kinderschutzbund.

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