Übertritt auf das Gymnasium um jeden Preis?

Wissen und Bildung
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von Anna Bahr
Für die Viertklässler beginnt bald die Zeit an einer weiterführenden Schule. Nicht wenige Kinder, die nach den Sommerferien das Gymnasium besuchen, haben in den letzten Jahren um jede gute Note gekämpft und einen Großteil ihrer Freizeit mit Nachhilfestunden verbracht. Denn für viele Eltern steht schon seit der ersten Klasse fest, dass ihr Kind den Übertritt auf ein Gymnasium auf jeden Fall schaffen soll.
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Für die Viertklässler beginnt bald die Zeit an einer weiterführenden Schule. Nicht wenige Kinder, die nach den Sommerferien das Gymnasium besuchen, haben in den letzten Jahren um jede gute Note gekämpft und einen Großteil ihrer Freizeit mit Nachhilfestunden verbracht. Denn für viele Eltern steht schon seit der ersten Klasse fest, dass ihr Kind den Übertritt auf ein Gymnasium auf jeden Fall schaffen soll.

Verplante Kindheit

Der Druck, es auf das Gymnasium zu schaffen, wird immer größer und beginnt für manche Kinder schon im Kindergarten. Denn nur wer schon frühzeitig seine Fähigkeiten schult, kann es einmal zu etwas bringen, so der allgemeine gesellschaftliche Konsens. Also fördern Eltern ihre Kinder, wo sie nur können.

Mit drei Jahren besuchen manche Kinder ihren ersten Englischkurs. Wahlweise geht es nach einem Acht-Stunden-Kindergartentag in die Musikschule, zum Yoga oder zum Reiten. Kleine Mädchen sollen sich beim Ballett entfalten, die Jungs in der Judogruppe ihren starken Willen trainieren. Müdigkeitserscheinungen? Zählen nicht. Gespielt wurde doch schon im Kindergarten. Jetzt sollen die Kleinen mal etwas lernen. So haben schon Kindergartenkinder eine mit Freizeitaktivitäten ausgefüllte Woche. Als „Helikopter-Eltern“ werden die Eltern bezeichnet, die bei ihren Kindern nichts dem Zufall überlassen wollen und das Leben ihres Kindes nicht nur durchplanen, sondern auch penibel überwachen.

Haben die Kleinen dann endlich ihre Zuckertüte in der Hand, sehen viele Eltern schon das Abitur in greifbarer Nähe. Denn nur mit Abitur, so scheint es, ist eine erfolgreiche Zukunft möglich. Das aktuelle gesellschaftliche Bild vermittelt dem Einzelnen, ihm stünden mit diesem Abschluss alle Türen offen. Alles sei nur eine Frage von Ehrgeiz und Willen. Bildung soll vor Arbeitslosigkeit schützen, Gesundheit und ein längeres Leben garantieren. Studium, ein toller Job, Karriere, eine Eigentumswohnung, der perfekte Partner - all das nur mit der mittleren Reife zu erreichen? Unmöglich. Wer versagt, ist selber schuld. Also wird optimiert, wo es nur geht.

Leistungsdruck in der Grundschule für den Übertritt

Nach der Kindergartenzeit geht in der Grundschule der Förderwahnsinn weiter. Neben diversen Hobbys kommen Nachhilfestunden dazu. Denn jede Note zählt. Auch die Hausaufgaben werden bei vielen Kindern strengstens kontrolliert. Manche Eltern wollen nichts dem Zufall überlassen und fertigen sogar die Referate oder Mathematikübungen gleich selbst an. Einige Lehrer berichten auch von besorgten Eltern, die in der Elternsprechstunde darum bitten, bei der Benotung doch ein Auge zuzudrücken - schließlich gehe es um die Zukunft des eigenen Kindes.

Nicht nur die Kinder stehen unter Druck, vor allem Eltern sehen sich in die Ecke gedrängt: Sie sind es, die die Verantwortung für die Zukunft ihrer Kinder tragen. Und obwohl das Ansehen der Real- und Hauptschule längst entstaubt und durch vielfache Reformversuche ein besseres Image gewonnen hat, genießt das Gymnasium immer noch mehr Prestige. Dass die Entscheidung Gymnasium oder Real- bzw. Hauptschule zu einem so frühen Zeitpunkt getroffen werden muss, wurde vielfach diskutiert. Die Entscheidung für den weiteren Bildungsweg sei viel zu früh und den Kindern würden die gleichen Chancen genommen, führen Gegner dabei immer wieder als Argument an.

Eine Alternative zum frühen Wechsel bietet in einigen Bundesländern die Gesamtschule, bei der die Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten gemeinsam lernen, aber verschiedene Schulabschlüsse anstreben. Die Schulform der Gesamtschule ist allerdings immer wieder Kritik ausgesetzt. Bemängelt wird oft, dass leistungsstarke Schüler ihr Potential unter leistungsschwachen Schülern nicht voll entfalten können.

Wer eine normale Grundschule besucht, muss sich für den Übertritt nach den Bestimmungen des jeweiligen Bundeslandes richten. In Sachsen-Anhalt, Hamburg und Berlin beispielsweise entscheidet der sogenannte Elternwille - nach intensiven Beratungsgesprächen mit den Lehrern - über den Übertritt ihres Kindes. In Sachsen und Bayern bleiben unter-dessen die Noten in drei Fächern ausschlaggebend. Doch auch wenn die Entscheidung in einigen Bundesländern bei den Eltern liegt, ob ihr Kind nach der vierten Klasse das Gymnasium besucht, fällt den Noten ein starkes Gewicht zu. Der Druck auf die Eltern ist groß: Wenn einem Kind schon in der Grundschule Lesen und Kopfrechnen schwer fällt, wie soll es dann erst auf dem Gymnasium werden? Oder hat das Kind doch das Potential für das Gymnasium?

Leistungskompetenz und persönliche Möglichkeiten

Wie auch immer Eltern ihr Kind fördern mögen, jeder Mensch hat sein eigenes Lerntempo und seine persönlichen Kompetenzen. Klaus Hurrelmann, Professor für Gesundheit und Bildung an der Berliner Hertie School of Governance, erklärt: „Schulisches Leistungsverhalten war schon immer durch angeborene persönliche Vorgaben (Intelligenz, Temperament, Motivation) und das damit eng korrespondierende soziale Umfeld in der Familie mitbestimmt.“

Der enorme Druck der auf den Kindern lastet, gute Leistungen in der Schule zu erzielen, so Hurrelmann weiter, würde bei vielen Kindern zu einer „psychischen, psychosomatischen und körperlichen Anspannung und Belastung führen“. Denn da ihre Eltern die schulische Laufbahn des Kindes als ersten Schritt der beruflichen Laufbahn sehen, bekommen die Noten einen immer höheren Stellenwert. Wird das Ziel nicht erreicht, kommt es zu Frustration, teilweise zu Versagensangst. Der Spaß am Lernen geht schnell verloren und die Schule wird zum Zwang. Doch unter Druck und Zwang lernt es sich schlecht. Eine Spirale aus Frustration kommt so schnell in Gang.

Lernen braucht Zeit

Statt für Bildung am laufendem Band und Wissensansammlung im Akkord plädieren immer mehr Pädagogen für mehr Zeit. Denn Bildung braucht auch Lange-Weile, wie etwa die Lehrbeauftragte für Bildungswissenschaften Ursula Primus betont: „Gute Bildung braucht noch etwas, was unserer Gesellschaft abhanden zu kommen scheint – sie braucht Zeit, viel Zeit, um sich müßig und in „langer Weile“ (nicht Langeweile) der Vielfalt der Dinge zu widmen, sich allen Fragen zu stellen, die Welt ganzheitlich in ihrer sinnlichen Gestalt zu erschließen.“ Das heißt, Dinge, die Kinder in der Schule - vor allem in den ersten vier Jahren - lernen, müssen auch erfahren werden. Denn was nützt es, wenn Kinder im Heimatkunde- und Sachunterricht alles über die Tiere im Wald erfahren, aber nie die Möglichkeit haben, die Natur zu entdecken, weil sie stattdessen von AG zu AG hetzen?

Kinder brauchen auch Zeit, für andere Erfahrungen. Zeit, um Wissen zu erwerben, dass nicht im Bildungsplan vorgesehen ist, so Primus weiter. Und: „Für die individuelle Entwicklung brauchen Kinder in erster Linie Geborgenheit, selbstbestimmte Entwicklungsmöglichkeiten und gute Sozialisationsmöglichkeiten“. Das heißt auch, dass nach der Schule und den Hausaufgaben einmal Schluss sein muss mit Lernen. Raus auf den Spielplatz, auf den Hof oder auf die Wiese zum Toben und Spielen. Denn auch so festigt sich Erlerntes. Durch sinnvolle Pausen, in denen die Kinder Kraft sammeln können, in denen sie einmal nichts leisten müssen. Zeit, die frei ist von Druck.

Viele Wege führen zum Abitur

Dass man sein Abitur auch machen kann, wenn man nach der vierten Klasse nicht den Übertritt auf das Gymnasium schafft, scheint sich noch nicht in den Köpfen der Eltern verfestigt zu haben. Kinder müssen nicht auf Biegen und Brechen auf das Gymnasium, auch über Umwege ist das Abitur möglich. Wer seinen Realschulabschluss nach der 10. Klasse schafft, kann danach immer noch auf das Wirtschaftsgymnasium wechseln. Hier wird den Schülern in drei Jahren das nötige Wissen für die Abiturprüfung vermittelt.

Dieser Weg hat einen weiteren Vorteil: Kinder, die beim Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium Schwierigkeiten hatten, können nach der 10. Klasse aus eigener Motivation heraus einen höheren Abschluss anstreben. Oftmals hat sich in diesem Alter auch der Berufswunsch gefestigt. Ist das Ziel für einen Beruf erst einmal klar, klappt bei vielen auch das Lernen leichter. Sogar als Erwachsener kann man das Abitur nachholen. Auf der Abendschule büffeln täglich Männer und Frauen, die sich erst spät für die Allgemeine Hochschulreife entschlossen haben und ein Studium planen.

Die individuellen Fähigkeiten des Kindes sehen


Wer sein Kind um jeden Preis auf das Gymnasium schicken möchte, obwohl die Leistungen es eigentlich nicht hergeben, sollte bedenken, dass das Kind in den nächsten Jahren immer wieder stark motiviert werden muss. Vielleicht benötigt es viele Nachhilfestunden, um den Stoff bewältigen zu können und verliert so schnell den Spaß an der Schule. Die Nachmittage sind verplant und die Nerven bei Kind und Eltern angespannt.

Vielmehr sollten Eltern auf die vorhandenen Fähigkeiten und auf Interessen ihres Kindes eingehen. Vielleicht hat das Kind eine handwerkliche Begabung und kann sich gut einen praktischen Beruf vorstellen? Auch mit dieser Begabung lässt sich Karriere machen. Wer sein Kind in seinen Stärken bestätigt und nicht nur auf die Schwächen guckt, legt den Grundstein für das nötige Selbstbewusstsein, das ein Mensch braucht, um sein Leben zu meistern.

Quellen und Literatur

Quellenangabe:
» www.schule.provinz.bz.it/forum-schule-heute/2013_4/2013_4_Th_Hurrelmann.htm
» www.schule.provinz.bz.it/forum-schule-heute/2013_4/2013_4_Th_Primus.htm

Buchtipp:
Martin Kohn: Das verflixte 4. Schuljahr: Stressfalle Übertritt: Analysen - Perspektiven - Auswege. Kösel-Verlag. 2012.
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Über den Autor/die Autorin

Anna Bahr hat an der Universität Leipzig ihr Germanistik- und Philosophiestudium abgeschlossen. Seit einigen Jahren arbeitet sie als freie Redakteurin. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Kinder und Familie sowie Kunst und Kultur.

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