Voll krass - Jugendsprache als Provokation

Entwicklung und Erziehung
© Yuri Arcurs - Fotolia.de
von Christine Kammerer
Erfahren Sie in diesem Thema der Woche mehr über die Veränderungen der Sprache und über die Quellen, aus denen sich immer neue Strömungen des Sprachflusses ergeben.
Lesedauer:
4 min
Jugendsprache... ...was ist das? Der ganz normale Alltag mit seinen Sorgen und Nöten, aber vor allem auch Songtexte, Fernsehshows, Werbung und natürlich die unendlichen Weiten des Internet sind die Quellen, aus denen sich immer neue Strömungen des Sprachflusses ergeben.

Wer sich wertfrei mit Jugendsprache beschäftigt, kann viel darüber lernen, womit junge Menschen sich gerade beschäftigen.

Der Begriff "Jugendsprache" lässt zunächst einmal vermuten, dass es sich hierbei um eine eigenständige Sprache mit differenziertem Wortschatz, Grammatik etc. vergleichbar der Standardsprache handelt. Gemeint sind jedoch lediglich meist sehr kurzlebige Abwandlungen der Standardsprache, Wortneuschöpfungen und aus Fremdsprachen übernommene oder an diese angelehnte Begriffe einer sehr schnell und flexibel wandelbaren Szenesprache.

Die Bezeichnung "Jugend" ist in diesem Zusammenhang irreführend, da Menschen, die sich der Jugendsprache bedienen, dem Alter nach keiner homogenen Gruppe zugeordnet werden können; auch im Hinblick auf soziale Schicht oder Bildungshintergrund ist keine eindeutige Zuordnung möglich.

Auffälligkeiten der so genannten Jugendsprache werden seit dem 18. Jahrhundert untersucht; damals rückten insbesondere die Eigenheiten der Studentensprache in den Mittelpunkt des Interesses der Sprachforschung. Jugendsprache zeichnet sich vor allem durch - durchaus beabsichtigte - Verstöße gegen geltende Moralvorstellungen und Tabus aus. Der gebräuchliche Wortschatz ist meist konkret, bildhaft, wertend und häufig auch sehr respektlos und aggressiv. Die Abgrenzung ist gewollt und gilt als Ausdruck von Freiheitsdrang und Selbstbestimmung einer Entwicklungsphase, die vor allem der Identitätsfindung dient.

Jugendliche kaschieren so ihre oft tiefe Unsicherheit und Orientierungslosigkeit und erzeugen Zugehörigkeit und Akzeptanz in einer Gruppe von Gleichaltrigen.

Kein Verfall... ...der Sprachkultur Medien lancieren gerne und regelmäßig Kampagnen, die Jugendsprache als Indiz eines allgemeinen Sprachverfalls werten oder sie als Ausdruck des zunehmenden Bildungsnotstands einer Gesellschaft darstellen, deren nachfolgende Generationen der deutschen Sprache immer weniger mächtig seien.

Diese Vorwürfe erscheinen jedoch angesichts wissenschaftlicher Erkenntnisse als haltlose Vorurteile. Zwar bedienen sich insbesondere einige Vertreter zum Beispiel aus der Rapper-Szene wie Bushido oder Reyhan Sahin, bekannter unter ihrem Künstlernamen Lady Bitch Ray, gerne dieser Klischees, um durch provozierende Normverletzungen ihren Bekanntheitsgrad und damit nicht zuletzt auch die Verkaufszahlen ihrer Labels zu steigern; ihre sprachlichen Auswüchse üben dabei jedoch offensichtlich keinen nachhaltigen Einfluss auf Jugendliche und junge Erwachsene aus, wiewohl sie durchaus vorübergehend Eingang in den Sprachgebrauch finden.

Während männliche Jugendsprache schon immer als "vulgär" innerhalb den Normen der jeweiligen Zeit galt, ziehen Mädchen und junge Frauen wie man am Beispiel von Reyhan Sahin unschwer erkennen kann heute verbal durchaus gleich oder bemühen sich in diesem "battle" sogar "erfolgreich" darum, ihre gleichaltrigen Gruppenangehörigen im Sprachspiel zu überbieten.

Auf Umwegen... ..zur Erwachsenensprache Jugendsprache zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass sie quasi einen breiten Korridor im Übergang zur Erwachsenensprache bildet, der in einem bestimmten Lebensabschnitt durchschritten wird.

Jugendliche experimentieren gerne und sie üben sich in diesem Lebensabschnitts darin, durch Versuch und Irrtum zu einer eigenen sprachlichen Identität zu gelangen.

Ziel der Übung ist es zunächst, möglichst cool zu wirken und als schlagfertig und souverän zu gelten. Sie leben ihre spielerischen Bedürfnisse gerade in der Pubertät, aber auch in späteren Phasen der Sozialisation im kreativen Umgang mit der Sprache aus.

Erwachsene, die an dieser Art des Sprachspiels allzu viel Anstoß nehmen, sollten zuerst einmal ihr eigenes Vokabular nach zweideutigen oder gar anrüchigen Anspielungen durchforsten, denn auch sie bedienen sich immer wieder gerne solcher Wortspielereien und können damit durchaus als zweifelhafte und höchst widersprüchliche Vorbilder für Jugendliche gelten.
Was ist heute noch provokativ? Ob ein Begriff als Provokation gewertet werden kann, liegt häufig eher im Bereich der subjektiven Wahrnehmung des Betrachters, als dass dafür allgemeine Standards heran gezogen werden könnten. Zudem haben sich Begrifflichkeiten, die noch bis vor einiger Zeit als Provokation empfunden worden wären, inzwischen mitunter so selbstverständlich Eingang in die Umgangssprache gefunden, dass sie kaum noch Anstoß erregen wie z. B. der Begriff "geil" für "toll", "schön" oder "cool".

Ein interessantes Beispiel übrigens auch für den permanenten Wandel unserer Sprache, denn noch im Mittelhochdeutschen bedeutete das Wort "froh, lustig, gutgelaunt", bevor es sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Begriff mit sexuellem Bezug veränderte. Während uns diese ursprünglichen Bedeutungen teilweise noch geläufig sind wie bei "toll" oder "irre", geraten andere in Vergessenheit und gelangen erst auf dem Weg über die Jugendsprache wieder in unseren Sprachschatz.

Auffällig an der Jugendsprache ist, dass es überdurchschnittlich viele abwertende Begriffe z. B. für Übergewichtige und noch viel mehr für solche Personen gibt, die als hässlich oder unsympathisch empfunden werden. Der allergrößte Anteil an provokativen Sprachwendungen der Jugendsprache umfasst Begriffe aus dem Bereich der Sexualität.

Die sprachliche Hemmschwelle ist jedoch nicht zuletzt durch die Massenmedien und hier insbesondere durch Akteure, die sich den verbalen Tabubruch medienwirksam auf die Fahnen geschrieben haben inzwischen so weit gesunken, dass es Jugendlichen selbst mit extremsten Mitteln der Vulgär- oder Fäkalsprache kaum noch geling, ihre Umwelt zu schockieren.

Abbild... ...einer sich wandelnden Gesellschaft Wer sich nur mit dem Teil der Jugendsprache beschäftigt, der bewusst Normen brechen und provozieren will, verkennt ihren äußerst originellen und kreativen Anteil, der aktuelle gesellschaftliche und politische Strömungen ungeschönt beim Namen nennt, denn sie bringt meist witzig, manchmal auch drastisch, aber fast immer sehr treffend auf den Punkt, was (nicht nur junge) Menschen gerade bewegt.

So war z. B. 2009 das Jugendwort des Jahres "hartzen" für "arbeitslos sein, rumhängen" - ein durchaus brisanter Stoff für Diskussionen, die unsere Gesellschaft auch weiterhin sehr beschäftigen werden.

Dicht gefolgt wurde es (an fünfter Stelle) von "Pisaopfer" für "Schulabgänger mit mangelnder Allgemeinbildung" - also ebenfalls ein Thema, das die aktuellen Sorgen und Nöte der Jugendlichen in aller Deutlichkeit auf den Punkt bringt.

Doch Jugendsprache fokussiert nicht nur kritisch, sondern anerkennt und wertschätzt auch im positiven Sinne, was angesagt ist oder wem Respekt gezollt wird, wie zum Beispiel die Wortneuschöpfung "obama" für "neu" oder "innovativ" zeigt.

Linktipps Langenscheidt, Jugendworte 2009
www.jugendwort.de

Der Jugendsprache Grenzen setzen
http://www.focus.de/schule/familie/ratgeber/..

Norbert Dittmar, Nils Bahlo: Jugendsprache. Ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der FU Berlin
http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/jugendsprache/index.html

Reyhan Sahin. Wikipedia: Vita einer umstrittenen Rapperin, die sich nicht nur in Songtexten und medialer Selbstdarstellung gezielt einer äußerst provokanten Sprache bedient, sondern auch eine Magisterarbeit zum Thema "Jugendsprache anhand der Darstellung der Jugendkultur HipHop" vorlegte.
http://de.wikipedia.org/wiki/Reyhan_%C5%9Eahin

"Was guckst du, bin isch Kino?"
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/..

Beitrag teilen:
Themen:
Jugendsprache
Wortschatz
Sprache
Sprachkultur
Über den Autor/die Autorin
Foto Christine Kammerer

Christine Kammerer, Politologin M. A., Heilpraktikerin (Psychotherapie), freie Journalistin und Trainerin. Berufliche Stationen: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bundeszentrale für politische Bildung, Deutscher Kinderschutzbund.

Weitere Beiträge lesen