Ganztagsschule – den ganzen Tag lernen!?
Entwicklung und Erziehung
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Ganztagsschule – den ganzen Tag lernen!?
von Dr. Birgit Ebbert
Vom Wortsinn her bedeutet „Ganztagsschule“ nichts anderes, als dass die Schule den ganzen Tag über Angebote. Die Ganztagsschule ist das Gegenstück zur bisher noch weithin üblichen „Vormittagsschule“, bei der die Schüler mittags nach Hause gehen und zusätzliche Angebote außerhalb der Schule wahrnehmen.
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Ganztagsschule – was ist das überhaupt?
Vom Wortsinn her bedeutet „Ganztagsschule“ nichts anderes, als dass die Schule den ganzen Tag über Angebote. Die Ganztagsschule ist das Gegenstück zur bisher noch weithin üblichen „Vormittagsschule“, bei der die Schüler mittags nach Hause gehen und zusätzliche Angebote außerhalb der Schule wahrnehmen.
Solche Ganztagsschulen sind in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Norwegen und Schweden seit Jahrzehnten üblich. In Deutschland hat die Diskussion um Ganztagsschulen nach der Auswertung der ersten PISA-Studie begonnen. Da einige Länder mit Ganztagsschulsystem besser abschnitten als Deutschland, schien die Ganztagsschule die Lösung des Problems.
Inzwischen ist Ruhe in die erhitzte Debatte aus den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts eingekehrt. Das liegt sicher nicht zuletzt daran, weil sich gezeigt hat, dass auch Ganztagsschulen nicht das Allheilmittel sind, sonst hätten die Gesamtschulen, die in der Regel seit ihrer Einführung als Ganztagsschulen geführt wurden, bei PISA überdurchschnittlich gut abschneiden müssen. Letztlich kommt es auf das Konzept der Ganztagsschule an und da ist die Bandbreite groß.
Man unterscheidet grob zwischen der gebundenen Ganztagsschule, in der die Schüler verpflichtet sind, ganztägig zur Schule zu gehen, und der offenen Ganztagsschule mit Nachmittagsangeboten, deren Teilnahme freiwillig ist. Innerhalb beider Modelle gibt es ein mehr oder weniger hohes Maß an Verbindlichkeit für alle Schüler, so gibt es gebundene Ganztagsschulen mit einem Angebot, das nur für einen Teil der Schüler verpflichtend ist, z. B. einen bestimmten Klassenzug, und es gibt offene Ganztagsschulen, bei denen nachmittags verpflichtender Unterricht angeboten wird.
In der Diskussion um die Ganztagsschulen wird nicht immer sorgfältig unterschieden, ob von der gebundenen Ganztagsschule mit Nachmittagsverpflichtung die Rede ist oder von der offenen Ganztagsschule mit einem Kann-Angebot.
Doch auch unabhängig vom Konzept einzelner Schulen gibt es noch immer Befürworter und Gegner der Ganztagsschulen, deren Argumente in den Abschnitten 2 und 3 skizziert werden. In Abschnitt 4 werden kurz die Modelle der verschiedenen Bundesländer vorgestellt versehen mit Links zur weiteren Information über die verschiedenen Ansätze. Abschließend finden sich in Abschnitt 5 Hinweise dafür, was bei dem Aufbau einer Ganztagsschule beachtet werden sollte.
Betreuung, Förderung und mehr – Argumente für die Ganztagsschule
Betrachtet man das Konzept der Ganztagsschule, so werden vor allem deutlich, dass die Schüler längere Zeit an das Umfeld Schule gebunden sind. An dieser Grundlage scheiden sich dann auch die Geister. Befürworter der Ganztagsschule begrüßen die Entlastung der Eltern, vor allem in Ein-Eltern-Familien.
Dadurch, dass die Kinder in der Regel bis mindestens 16.00 Uhr betreut sind, lassen sich Familie und Beruf besser vereinen. Positiv gesehen wird, dass die Schüler ihrer schulbezogenen Pflichten komplett in der Schule nachkommen, dort also auch ihre Hausaufgaben erledigen, und die Diskussion um die Hausaufgaben in der Familie entfällt.
Die Nachmittagsangebote ermöglichen auch Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Familien, ihre Begabungen zu entdecken und auszuleben. Falls es erforderlich ist, kann am Nachmittag eine spezielle Förderung bei Lernschwächen oder sprachlichen Defiziten erfolgen.
Durch den Kontakt zwischen Lehrern und Schülern in dem eher informellen Nachmittagsangebot entsteht eine größere Nähe zwischen Schülern und Lehrern, die sich nach Auffassung der Befürworter positiv auf die Leistungen der Schüler auswirkt.
In einer Ganztagsschule sehen die Befürworter deutlich mehr Chancen für ein echtes Zusammenleben zwischen den Kulturen und sozialen Umfeldern, was zu mehr Verständnis und Interesse führen kann. Doch nicht nur die Chancen eines Nachmittagsangebotes heben die Befürworter hervor, die Ganztagsschule kann sich auch auf den Unterricht auswirken, da sie einen größeren zeitlichen Spielraum lässt und mehr Freiheiten gibt, neue Lernformen zu nutzen.
Freizeitverlust, Unselbstständigkeit und mehr – Argumente gegen die Ganztagsschule
Wie immer im Leben, hat alles zwei Seiten und was die Befürworter der Ganztagsschulen positiv sehen, ist den Gegnern der Ganztagsschule ein Dorn im Auge.
Das beginnt schon bei den verpflichtenden Angeboten am Nachmittag, von denen die Gegner die Erziehungsfreiheit und -hoheit der Eltern bedroht sehen. Sie befürchten, dass die Schüler, die den ganzen Tag in der Schule verbringen, ihren Eltern, ihrer Familie und ihrer Kultur entfremdet werden und in ihren individuellen Fähigkeiten und Begabungen nicht ausreichend gefördert werden können, weil keine Zeit mehr für ein Hobby, Sport oder Musik bleibt.
Das, was die Befürworter, besonders begrüßen, dass die Hausaufgaben aus der Familie verschwinden, sehen die Gegner ebenso kritisch. Zum einen merken sie an, dass die Hausaufgaben gar nicht vollständig erledigt werden und so die Diskussion in der Familie bleibt, zum anderen kritisieren sie, dass die Hausaufgaben in der schulischen Betreuung nicht ausreichend kontrolliert und überwacht werden.
Schließlich sorgen sie sich darum, dass den Schülern noch mehr abgenommen wird und sie durch einen vorstrukturierten Alltag noch unselbstständiger werden und lediglich lernen, sich an einem festgelegten Stundenplan zu orientieren.
Unabhängig von den Konsequenzen für die Schüler und ihre Entwicklung nehmen die Kritiker der Ganztagsschule die Kosten in den Blick. Ganztagsschulen füllen nicht nur die nachmittags leerstehenden Räume aus, sie benötigen eine Küche, in der das Mittagessen zubereitet wird, einen Raum, in dem mehrere hundert Schüler zugleich essen können, Betreuungspersonal für die Nachmittagsangebote und womöglich spezielles Personal, das sich mit den persönlichen Problemen der Schüler befasst.
Ganztagsschulmodelle der Bundesländer
Baden-Württemberg
Im Februar 2006 hat der Ministerrat entschieden, das Ganztagsangebot in Baden-Württemberg so auszubauen, dass jedes Kind die Möglichkeit erhält, eine Ganztagsschule in seiner Nähe zu besuchen.
Ganztagsschulen können grundsätzlich in allen Schulen eingerichtet werden, vorrangig ist das Konzept der offenen Ganztagsschule vorgesehen, der Grad der Verbindlichkeit kann jedoch im Rahmen einer Ganztagsschule mit besonderer pädagogischer und sozialer Aufgabenstellung erhöht werden.
Weitere Informationen:
hhttp://www.km-bw.de/,Lde/Startseite/Schule
Bayern
In Bayern nähert man sich dem Umbau von Vormittags- in Ganztagsschulen durch die schrittweise Umwandlung der Schulen bzw. Klassen. Hier gibt es das Konzept der „Ganztagsklassen“ oder „Ganztagszüge“. Hier besuchen nicht zwingend alle Schüler einer Schule ein Ganztagsangebot, sondern u. U. nur einzelne Jahrgangsstufen oder einzelne Züge einer Jahrgangsstufe. Daneben gibt es Ganztagsschulen, die - ebenso wie die ganztägigen Klassen oder Stufen - je nach Konzept ein gebundenes oder offenes Angebot machen.
Weitere Informationen:
http://www.ganztagsschulen.bayern.de
Berlin
In Berlin sollen alle Grundschulen als offene oder gebundene Ganztagsschulen organisiert sein und schrittweise soll die Ganztagsbetreuung auch in die Sekundarschulen Einzug halten.
Weitere Informationen:
http://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/index.php?id=ganztag/
Brandenburg
Brandenburg hat den Ausbau des Ganztagsschulangebotes vorgesehen, geplant ist, dass ein Drittel der Grundschüler und die Hälfte der Schüler der Sekundarstufe I ein Ganztagsschulangebot wahrnehmen können.
Weitere Informationen:
http://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/index.php?id=ganztag
Bremen
In Bremen gibt es in allen Schulformen Ganztagsschulen mit einem Angebot von 8.00 bis 16.00 Uhr an drei bis fünf Tagen. An den Grundschulen gibt es nur gebundene, also verpflichtende Ganztagsschulen, während in den Schulen der Sekundarstufe I verschiedene Modelle umgesetzt werden.
Weitere Informationen:
https://www.bildung.bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen117.c.3862.de
Hamburg
Die Schulen in Hamburg arbeiten mit unterschiedlichen Konzepten der Ganztagsschule, die meisten sind offene Ganztagsschulen, jedoch gibt es auch gebundene Ganztagsschulen mit einem verpflichtenden Nachmittagsangebot für die Schüler.
Weitere Informationen:
http://www.hamburg.de/ganztag/
Hessen
Mit einem Mehrjahresprogramm wird in Hessen der Ausbau des Ganztagsschulangebots vorangetrieben. Beteiligen können sich alle Schulen, dabei ist eine Vielfalt von Konzepten möglich, eine bedeutsame Rolle spielen die lokalen Kooperationspartner.
Weitere Informationen:
http://www.hessen.de/irj/HKM_Internet?cid=54f479017cbf9dc1397bdef32b2922a5
Mecklenburg-Vorpommern
Mecklenburg-Vorpommern strebt einen Ausbau des Ganztagsschulsystems an, im Mittelpunkt steht dabei die gebundene Ganztagsschule, in der die Schüler zur Teilnahme verpflichtet sind.
Weitere Informationen:
http://www.bildung-mv.de/de/schule/entwicklung/ganztagsschule/
Niedersachsen
In Niedersachsen sieht das Schulgesetz Ganztagsschulen als offene Ganztagsschulen vor, in denen die Schüler für jeweils ein Schulhalbjahr zur angemeldet werden. In Einzelfällen erfolgt die Organisation auch als gebundene Ganztagsschule.
Weitere Informationen:
http://www.mk.niedersachsen.de/live/..
Nordrhein-Westfalen
Das Land Nordrhein-Westfalen plant den weiteren Ausbau von Ganztagsschulen, wobei die Umsetzung vom Konzept der jeweiligen Schule und Rahmenbedingungen abhängig ist. Schon jetzt sind alle Gesamtschulen Ganztagsschulen und auch in allen anderen Schulformen gibt es bereits gebundene und offene Ganztagsschulangebote.
Weitere Informationen:
https://www.schulministerium.nrw.de/
Rheinland-Pfalz
In Rheinland-Pfalz werden drei Formen der Ganztagsschulen unterschieden, die offene Form, bei nachmittags der einzelne Unterrichtsstunden und Betreuungsangebote stattfinden, die verpflichtende Form, bei alle Schüler am Ganztagsangebot teilnehmen müssen und die neue Form der Ganztagstagsschule, bei der an vier Tagen von 8.00 bis 16.00 Uhr ein Unterrichts-, Förder- und Freizeitangebot zur Verfügung steht.
Weitere Informationen:
https://www.rlp.de/de/aktuelles/einzelansicht/news/detail/News/neue-schulangebote/
Saarland
Das Saarland fördert den Ausbau der gebundenen und teilgebundenen Ganztagsschulen in seinem Projekt „Freiwillige Ganztagsschule“.
Weitere Informationen:
http://www.saarland.de/index.htm
Sachsen
In Sachsen ist die Ganztagsschule im Stadium des Modellversuchs, während gleichzeitig Schulen bereits Ganztagsangebote machen, die jedoch nicht unter dem Begriff „Ganztagsschule“ firmieren.
Weitere Informationen:
http://www.smk.sachsen.de/
Sachsen-Anhalt
Ganztagsschulen sind im Schulgesetz Sachsen-Anhalts verankert und finden sich auch in allen Schulformen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie an mindestens drei Tagen in der Woche ganztägig ein Bildungs- und Betreuungsangebot bereithalten, wobei auch der Pflicht- oder Wahlpflichtunterricht auf den Nachmittag gelegt werden kann.
Weitere Informationen:
http://www.sachsen-anhalt.de/startseite/
Schleswig-Holstein
Die schleswig-holsteinischen Ganztagsschulen arbeiten überwiegend nach dem offenen Konzept, bei dem am Nachmittag von der Schule oder Kooperationspartnern ein zusätzliches Betreuungs- und Bildungsangebot bereitgestellt wird. Darüber hinaus gibt es um die 30 gebundene Ganztagsschulen mit verpflichtendem Charakter.
Weitere Informationen:
http://www.schleswig-holstein.de/DE/Fachinhalte/G/ganztagsschule/konzept_offene_ganztagsschule.html
Thüringen
Ganztagsschulen sind in Thüringen in allen Schulformen und in offener oder gebundener Form möglich und vorgesehen. Die Umsetzung hängt jedoch auch ab von der Umsetzung des Konzepts der Gemeinschaftsschule, die vorrangig als Ganztagsschule gedacht ist.
Weitere Informationen:
http://www.ganztagsschulen.org/1157.php
Was sollte bei dem Aufbau einer Ganztagsschule beachtet werden?
Wie jede Veränderung gelingt auch der Aufbau einer Ganztagsschule bzw. die Umwandlung einer Halbtagsschule in eine Ganztagsschule am besten dann, wenn von Anfang an alle Beteiligten an einem Tisch sitzen und an einem Strang ziehen. Es ist durchaus sinnvoll, zunächst den Bedarf im eigenen Stadtteil zu erheben, ehe die Planung beginnt und sich mit den anderen Anbietern von Ganztagsschulangeboten abzustimmen.
An vielen Beispielen hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass es besser ist, sich im Vorfeld Gedanken über das Wunschangebot zu machen und diese den vorhandenen Möglichkeiten gegenüber zu stellen. Sonst kommt es schnell vor, dass ein Ganztagsangebot angekündigt wird, aber nicht einmal Platz vorhanden ist, an dem eine Klasse, geschweige denn eine Jahrgangsstufe ein Mittagessen einnehmen kann. Selbst eine Investitionsförderung hilft nur da, wo auch die Rahmenbedingungen, in dem Fall Platz und Raum, zur Verfügung stehen.
Es lohnt sich in jedem Fall, externe Unterstützung in Anspruch zu nehmen wie sie z. B. die Serviceagenturen der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (www.ganztaegig-lernen.org) anbietet.
Über den Autor/die Autorin
Dr. Birgit Ebbert ist freie Autorin und als Diplom-Pädagogin seit vielen Jahren in der Elternarbeit und Lehrerfortbildung tätig. Neben Kinderbüchern und Krimis schreibt sie Elternratgeber, Lernhilfen, Vorlesegeschichten und Bücher über kreatives Arbeiten mit Papier.